August 2020 – Die Stunde der Wahrheit beginnt. Vorausschauend erarbeitete Strategien fangen an sich auszuzahlen. Anfängliche Unachtsamkeiten münden in wachsenden Hürden und Mehraufwand auf dem Weg zum Cutover auf die neue S/4HANA Business Suite. Willkommen in der Realize Phase.
Die S/4HANA Umstellung ist komplex, das wissen wir mittlerweile. Welche Herausforderungen dabei in Verbindung mit dem Menschen auftreten und wie sie zu bewältigen sind, diskutieren wir in unserer CH/4NGE Artikelserie entlang der SAP Activate Phasen. Im Mittelpunkt der vorangegangenen Artikel, von der Discover bis hin zur Explore Phase, standen Konzeption und Vorbereitung aller Maßnahmen für die Umstellung.
Was passiert nun in der Realize Phase?
Aus einer technischen Perspektive geht es in der Realize Phase ans Eingemachte. Planungen und Vorarbeiten sind abgeschlossen, die Veränderung nimmt Gestalt an. Die funktionalen und Security-bezogenen Systemänderungen, die man im Rahmen der Fit-Gap-Analyse in einem Backlog festgehalten hat, werden jetzt umgesetzt. In Abhängigkeit von der individuellen Userrolle in der Organisation und den notwendigen SAP Berechtigungen können die entsprechenden SAP Fiori Interfaces aufgesetzt werden. Was sich nach einem kleinen Aufgabenpaket anhört, wird durch den Dreiklang zwischen User-Sicht, Berechtigung und organisatorischer Rolle in den neuen Prozessen oftmals komplexer als vermutet.
Im Integration Stream werden nun die relevanten Schnittstellen zu anderen Systemen implementiert. Viele dieser Aktivitäten passieren dabei parallel, um die Migration in einer akzeptablen Qualität und Geschwindigkeit sicherzustellen. Eine starke Koordination und effektives Risk Management sind also absolut notwendig, um Fehlern vorzubeugen, wenn es zum Cutover kommt. Apropos Fehler während des Cutovers: Für den Worstcase wird ein sogenannter Rollback Plan erstellt, um die größten Schäden zu vermeiden, falls etwas schiefgeht. In jedem Fall aber muss spätestens jetzt die Implementierung der Supportorganisation inklusive Rollen, Prozesse und Tools stattfinden.
Aus Change Perspektive wird nun ebenfalls das Tempo hochgefahren. Change Sprints werden geplant, um spezifische Maßnahmen mit dem richtigen Impact (bspw. Setup und Maintenance von User Communities) inkrementell entwickeln, durchführen und fortlaufend anpassen zu können. Damit einher geht ein gesteigerter Fokus auf das Change Controlling, um die Wirkung der Maßnahmen realistisch abzubilden. Die End-User Trainings werden konzipiert und geplant, Feedbackkanäle eingerichtet und breite Kommunikationskampagnen gestartet. Wie im letzten Artikel angekündigt, spielt die Mobilisierung eines guten Netzwerks an Change Agents und Sponsoren nun eine entscheidende Rolle. Dies ist unter anderem dem jetzigen Zeitpunkt geschuldet, an welchem zentrale Maßnahmen tatsächlich weniger Impact erzeugen als zielgruppenspezifische.
Was sind die typischen Herausforderungen in dieser Phase?
Gerade in großen Unternehmen laufen viele Prozesse möglichst zentral und standardisiert ab. Aussagen wie: „Ein standardisierter Ansatz verhilft zu effizienter direkter Steuerung und verhindert Redundanzen oder irrtümliche Kommunikation“ sind weit verbreitet und sicherlich in vielen Bereichen anwendbar. In einem Projekt mit der Komplexität einer S/4HANA Umstellung ist diese Einstellung allerdings das Ticket zur Katastrophe. Wie in den letzten Artikeln in verschiedenen Zusammenhängen diskutiert, sind die Bedürfnisse und Veränderungen bei den vielen verschiedenen Zielgruppen so divers, dass dezentrale Kommunikation und Nutzerbetreuung ein Muss ist. Um das zu realisieren, sind sorgfältig ausgewählte Change Agents und Sponsoren die entscheidenden Mittel zur Implementierung.
Häufig als „Stimme der Organisation“ bezeichnet, nehmen Change Agents eine Multiplikatorenrolle in Unternehmenszweigen ein. Sie helfen, Botschaften in Suborganisationen zu tragen, und fördern durch ihre Vertrauenswürdigkeit die Akzeptanz der breiten Masse. Im Rahmen der S/4HANA Umstellung gilt es daher, sie auf ihre Rolle als Rollouthelfer und/oder Floorwalker vorzubereiten, sie ganz gezielt einzubinden, einzusetzen und sie bezüglich des Projektfortschritts stets auf dem Laufenden zu halten. So sind sie nicht nur in der Lage, Rückmeldung zu Stimmung und Bedürfnissen der oft global verteilten Mitarbeiter Zielgruppen zu geben, sondern können in Zusammenarbeit mit dem Projektteam ganz spezifisch ausgerichtete Change Maßnahmen entwickeln. Im weiteren Verlauf des Rollouts können sie in sensiblen Phasen der Unsicherheit Abhilfe schaffen und den Kollegen über kleinere Veränderungshürden helfen. Dabei ist es natürlich wichtig, die Rollen mit den geeigneten Charakteren zu besetzen. Ein Change Agent ist gut vernetzt, fachlich sowie persönlich kompetent und kommunikationsstark.
Gezielter Einsatz von Change Agents und Sponsoren
Neben den Change Agents nehmen auch Sponsoren eine entscheidende Rolle im Konstrukt ein. Als (höherrangige) Führungskräfte steuern sie Widerstände bei Mitarbeitern durch aktives Change Leadership in die richtige Richtung. Sie stellen Ressourcen frei und schaffen weitere Hindernisse aus dem Weg, um den Umstellungsplan einzuhalten. Um diese Rolle also zu leben, ist es notwendig, dass die Sponsoren (1) ihr Commitment hinsichtlich der S/4HANA Umstellung offen zeigen, (2) eine starke Vorbildfunktion einnehmen und (3) in diesem Kontext das Verhalten der Mitarbeiter durch Belohnung oder angemessene Konsequenzen steuern. „Walk the Talk” – die richtigen Dinge sagen, reicht nicht aus: Ein effektiver Sponsor braucht eigene Motivation und Ziele hinter der Umstellung, sodass er richtig Aufgaben verteilt und dadurch Verhalten intuitiv und glaubwürdig lenkt.
Sowohl Change Agents als auch Sponsoren klingen nach einer „eierlegenden Wollmilchsau“ – und das sind sie auch. Gute Change Agents und starke Sponsoren werden im dezentralen Change Management leider oftmals zu wenig wertgeschätzt. Die Wertschätzung, die ihnen zusteht, gebührt auch dem Aspekt, dass sie in der Kommunikation der Umstellung eine große Rolle einnehmen. Wie oben erwähnt, gibt es einen Punkt in großen Veränderungsvorhaben, wo betroffene Personen sich stark mit den individuellen Konsequenzen auseinandersetzen. Durch alleinige zentrale Kommunikation fühlen sie sich nicht abgeholt, haben nicht den Eindruck, dass schnelle Antworten auf ihre Fragen möglich sind. Fühlen sie sich überrollt, wenden sie sich ab, es kommt zu einem „overload“. Dazu kommt, dass Mitarbeiter Neuigkeiten zum Thema S/4HANA gerne von ihren direkten Vorgesetzten hören, denen sie vertrauen und die nah an ihrer operativen Arbeit sind.
Sponsoren und Change Agents greifen also auch hier als wichtiger Erfolgsfaktor. Sie können die Zweifel, Fragen und Bedürfnisse erfühlen, nachfragen sowie schließlich in den direkten Dialog gehen.
Differenzierung über User Communities
Der persönliche Dialog ist auf Informationsebene nicht immer möglich. Rein aus Kapazitätsgründen wäre eine individuelle Betreuung der Betroffenen völlig utopisch. Trotzdem ist nichts gravierender, als im Nachgang festzustellen, dass – oft mit viel Aufwand verknüpfte – Kommunikation in die falsche Richtung abzielt oder User mit irrelevanter Info überflutet. Abhilfe schaffen hier sogenannte User Communities. Über User Communities (oft auch digital über das Firmen-Intranet oder interne Social Media Kanäle abgebildet) werden Mitarbeiter geclustert, die ähnliche Veränderungen durchlaufen und einen vergleichbaren Betroffenheitsstatus aufweisen. Entsprechend ihrer Interessen versorgt man sie mit den relevanten (!) Informationen und der Möglichkeit zum Austausch. Funktionale Trainings und Kommunikationsmaßnahmen werden auf diese Communities zugeschnitten, die User können Fragen stellen und sie gegebenenfalls untereinander klären. Und auch für das Transformation Office springt etwas dabei heraus: Sie bekommen zügig Rückmeldung zu ihren Maßnahmen aus erster Hand.
Diese Rückmeldungen sind viel wert und sollten für zukünftige Aktivitäten in Betracht gezogen werden. Passiert das nicht, sind Vorkommnisse wie die folgende Situation vorprogrammiert: Das Transformation Office erstellt eine wichtige Informationsunterlage für die End-User Teams und verteilt die erste Unterlage an die entsprechenden Führungskräfte. Erst Wochen später stellt sich heraus, dass die Teams die Unterlage zwar kurz besprochen, aber für die eigene Arbeit nicht weiterverwendet haben. Auf die Nachfrage, warum, kommt schließlich die Antwort, sie enthalte nicht die Detailtiefe, die sie gebraucht hätten. Alle weiteren Unterlagen für die Serie sind aber bereits erstellt – auf der gleichen Informationsebene. Das ist auch deshalb ärgerlich, weil die Unterlage durch aufmerksame Rücksprachen hätte Mehrwert stiften können.
Um solche Fehltritte zu vermeiden, eignet sich die Planung von Change Sprints. Aber „Sprints“ gehören doch eigentlich in ein agiles Setup? – Richtig.
Agile Change Sprints sind wichtiger als alles durchzuplanen.
Wer die vorherigen Artikel gelesen hat, weiß, dass eine weitere wichtige Eigenschaft des Change Managements Konzepts für die S/4HANA Umstellung Flexibilität ist. Unter anderem gesteuert durch die Messungen des Change Controllings (bspw. Mood-Rates), den Input der Change Agents und den Rückmeldungen durch weitere Feedbackkanäle ist es das Ziel, Change Maßnahmen möglichst bedarfsorientiert zu gestalten und kontinuierlich anzupassen. Und welches Vorgehen passt dazu besser als ein iteratives Setup durch agile Change Sprints?
In einem zyklischen Vorgehen können Change Management Maßnahmen spezifisch geplant, durchgeführt und gemessen werden. Auf Basis der Ergebnisse werden die Maßnahmen im Folgezyklus dann angepasst, neu erstellt oder eliminiert. Im Rahmen der S/4HANA Transformation kann so zur richtigen Zeit an den richtigen Stellhebeln im Sinne der Kommunikation, des Involvements oder auch der Wissensvermittlung gedreht werden.
Die Doppelspitze im Testen – Business und IT
Ein weiteres, wichtiges Thema im S/4HANA Kontext kann nicht oft genug wiederholt werden: Die enge Zusammenarbeit zwischen IT und Business ist erfolgskritisch. Angefangen bei maßgeblichen Projektentscheidungen im Rahmen der Discover Phase, zeigt es sich in der Realize Phase beim Testen der Funktionalitäten. Wer bereits ein System ausgerollt und dadurch die Wichtigkeit des Testens erfahren hat, weiß, dass die Koordination auf operativer Ebene zeitweise nervenzehrend ist. Im S/4HANA Kontext potenziert sich diese Herausforderung: Aufgrund der End-to-End Prozesse mit granularen und voneinander abhängigen Systemänderungen muss genau festgelegt sein, wer wann und was testet. Verspätet sich ein Termin, verzögern sich alle folgenden, da über alle beteiligten Funktionen hinweg getestet werden muss. Dazu das altbekannte Problem, dass Business User als Tester die Zeit brauchen, um das neue System zu testen.
Obwohl der Mehrwert noch nicht direkt erkennbar ist, ist es notwendig, dass die Führungskräfte die erforderlichen Kapazitäten „freischaufeln“, sodass sie ihr Feedback zur Verfügung stellen können. Hier ist also ein starkes Commitment seitens Sponsoren und eine gemeinsame Herangehensweise der Departments gefragt. Was sind langfristige Benefits? Welches Ziel verfolgen wir und warum kann jeder Einzelne davon profitieren? Was passiert, wenn sich Tests verzögern? Insbesondere in einem langfristigen Vorhaben, wie der S/4HANA Umstellung ist es empfehlenswert, direkt zu Anfang geeignete Ansprechpartner auf beiden Seiten zur Verfügung zu stellen und eine regelmäßige Kommunikation zu vereinbaren, um so den Austausch zu fördern. Nicht nur für das Testing, sondern auch für alle weiteren Berührungspunkte.
Key Take-Aways
- Ein ausschließlich zentral gesteuertes Change Management ist keine Option – Achten Sie auf den gezielten Einsatz von Change Agents und Sponsoren.
- Differenzierung über User Communities – Kennen Sie die unterschiedlichen Bedürfnisse
- Maßnahmen kontinuierlich anpassen – Agile Change Sprints sind wichtiger als alles durchzuplanen.
- Die Doppelspitze im Testen – Auch beim Testen müssen Business und IT eine verlässliche Allianz bilden.
Zum Abschluss
Alle Artikel der fünfteiligen CH/4NGE-Serie finden Sie im News-Bereich unserer Homepage.
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